Grete Gulbransson

Grete Gulbransson (1882 - 1934)

Vater Jakob Jehly war Vorarlberger Landschaftsmaler, Mutter Wanda geb. Poellnitz, verwitwete Douglass. 

Geboren am 31. Juli 1882 als Margarethe Jehly in Bludenz / Vorarlberg. Kindheit und Jugend in einem musischen Elternhaus. Schon früh Hinwendung zu Malerei und Dichtkunst. Schon im Alter von 18 Jahren verfasste sie zahlreiche Gedichte.1914 erschien der erste Lyrikband, der zweite folgte 1922. Mit 20 verlor sie Vater und Mutter und zog nach München, wo sie die nächsten 23 Jahre (mit regelmäßigen Aufenthalten in Vorarlberg) verbrachte. Bekanntschaft mit dem Maler und Zeichner Olaf Gulbransson (Mitarbeiter der satirischen Zeitschrift "Simplicissimus").
1906 Heirat (Scheidung 1923). Das Haus des Ehepaares Gulbransson wurde zum Treffpunkt für viele Künstler und Schriftsteller der Münchner Kulturszene (Bekanntschaft mit Hermann Hesse, Hugo von Hofmannsthal, Ricarda Huch, Alfred Kubin, Else Lasker-Schüler, Thomas Mann, Rainer Maria Rilke, Stefan Zweig u. a.). In dem Zeitraum von 1895 bis 1934 verfasste Grete Gulbransson 222 Tagebuchbände im Format 21 cm x 17 cm. Gestorben am 26. März 1934 in München.

 

Grete Gulbransson - Kindheit und Jugend

"Der Realismus ist nach meiner Meinung nicht so wichtig als die Erhebung des Lebens in eine dem eignen Wesen gemäße, reine künstlerische Form. Formbildend rein, auch am Leben. Es ist in jedem Schicksal, jeder Lebensepisode so viel Material. Das Wertvolle und Gute herauszuleben, herauszuheben, herauszuarbeiten will mir als das Wichtige erscheinen." 

 

Grete Gulbransson - Münchner Jahre 

Nach dem frühen Tod der Eltern (ihr Vater starb 1897, die Mutter 1902) verließ Margarethe Jehly Vorarlberg und fand zunächst im Hause des Jugendstilarchitekten Hans von Berlepsch in Planegg bei München eine Unterkunft. Bald jedoch musste sie erkennen, dass dieser sie aufgrund ihrer künstlerischen, für eine Frau damals „völlig untypischen“ Ambitionen ablehnte. Welchem Druck sie dabei ausgesetzt war, zeigen u.a. ihre Tagebucheinträge: 
Ihre Kindheit, die sie in Vorarlberg verbrachte, trug wesentlich dazu bei, dass sie sich von Jugend auf ihren Neigungen, vornehmlich der Schriftstellerei und der Malerei, widmen konnte. Schon ihre Eltern waren der Kunst und Literatur sehr zugetan: Grete Gulbranssons Vater, Jakob Jehly, zählte zu den bedeutendsten Vorarlberger Landschaftsmalern des 19. Jahrhunderts, ihre Mutter, Wanda Douglass-Jehly (sie stammte aus dem bayrischen Adelsgeschlecht der Poellnitz), galt als gebildete, an Kunst und Literatur interessierte Frau, deren poetische Vorlieben Grete Gulbransson stets beeindruckt hatten. 

Trotz anfänglicher Schwierigkeiten führten Wanda Douglass und Jakob Jehly eine harmonische Ehe. Wanda, die zuerst mit dem schottischen Lord John Sholto Douglass of Tilquhillie verheiratet war (er kam mit 36 Jahren bei einem Bergunfall ums Leben), stieß mit dem Wunsch nach Wiedervermählung sowohl bei ihrer Schwiegermutter Lady Jane Douglass als auch bei der eigenen Familie auf erbitterten Widerstand: die Verbindung zwischen einer Adligen und einem einfachen Kunstmaler galt gesellschaftlich als nicht tragfähig und wurde als Mesalliance abgelehnt. Folglich unternahmen die beiden Aristokratenfamilien der Poellnitz' und Douglass' alles, um diese "unwürdige" Ehe zu verhindern. Ihre Bemühungen blieben jedoch ohne Erfolg, Wanda Douglass und Jakob Jehly schlossen am 3.12.1879 den Bund fürs Leben. Eineinhalb Jahre später, am 31.Juli 1882,  wurde Margarethe Jehly geboren. 
Das vielseitig interessierte Mädchen wuchs in einem Klima von Bildung, Kunst und Toleranz auf, und begann bereits in den Jugendjahren, erste Gedichte zu verfassen. Mit 20 war für sie klar, dass sie ihr Leben der Schriftstellerei widmen wollte. 

1914, als 32jährige, publizierte sie ihren ersten Lyrikband, "Gedichte" (erschienen bei Fischer/Berlin). 1922 folgte der "Ewiger Ruf" (ebenfalls Gedichte, erschienen bei Musarion/München), 1932 das Heimatstück "Battlog" (Selbstverlag des Verkehrsvereins Schruns) und die Ballade "Ehreguta" (Buchdruckerei Dworzak/Bludenz). 1934, kurz nach ihrem Tod, gelang der Autorin ein allerdings nur regional begrenzter Durchbruch mit dem stark autobiographisch gefärbten Roman "Geliebte Schatten" (Grothe/Berlin), den sie im Untertitel "Chronik der Heimat" nannte und in sie dem die berührende Liebesgeschichte ihrer Eltern schildert. 

"[...]. Ich trage meine trunkne Seligkeit in mein stilles Zimmer. Beim Essen erzähle ich es Hans. Er ist merkwürdig wortkarg und herb und grantig und alles Glühende, Jauchzende in mir erstarrt, erschreckt zu Eis. "So, bist Du an den Langen selber gekommen!" "Ja, Sie hat sich halt bei ihm extra melden lassen!" sagt Mutter. Und ich sage es Hans, dass er mir schreiben will, wann er mich in den nächsten Tagen sehen kann und bitte, ob ich noch so lange dableiben darf. "Nein, das hat keinen Sinn", sagt er, mit einer mir unbegreiflichen Härte, "diese ewige Hinausschieberei hat keinen Sinn! Jetzt geh’ einmal nach England!" 

Ich bin starr!! Jetzt, wo sich fast mein ganzes Lebensschicksal wenden kann, wo sich ein Mann wie Langen für mich interessiert, jetzt will mich Hans ihm vor der Nase davon schicken!! Ich kann es nicht begreifen!! Soviel steht fest, dass mich keine Macht der Welt aus München hinausbringt, vor ich nicht nochmals bei Langen war!! Aber wenn Hans mich hinausschmeißt, geh’ ich natürlich von hier weg. "Ja Hans, selbstverständlich geh’ ich" sage ich befremdet und entsetzt. "Es kann auch unsere Notiz in der Genfer Zeitung Antwort finden und dann wird das Zimmer gebraucht. Übrigens muss es gründlich gereinigt werden, nachdem Du fort bist." [...]." 

 

Enttäuscht von Berlepschs unerbittlicher Härte und Engstirnigkeit löste sie sich von ihm und setzte alles daran, aus eigener Kraft eine ihren Vorstellungen entsprechende Existenz aufzubauen. Für eine junge Frau der damaligen Zeit war dies ein sehr mutiges und mit unzähligen Hindernissen verbundenes Unterfangen. Trotz allem suchte sie die Nähe zu Künstlern und Schriftstellern der Münchner Kulturszene. Wie  aus dem obigen Zitat zu entnehmen ist, schloss sie sich auch dem Kreis des legendären Simplicissimus an, jener Satire-Zeitschrift, die 1896 von dem Verleger und Kunstliebhaber Albert Langen gegründet wurde und in dessen Empfangszimmer sie  Olaf Gulbransson kennen lernte, den sie kurze Zeit später heiratete: Am 14. August 1906 gaben sich die beiden das Ja-Wort.

"[...]. Nein, und was ich fühle, ist mehr als das. Es ist die unbändige Lust an Form, Farbe, Hauch und Stimmung, an Thau, an Morgen und Abend, es ist die Befriedigung aller Sinne, durch die ewig lebendige Natur [...]. Und nicht zum Wenigsten die malerischen Lüste, die ich von meinem Vater geerbt hab' [...]. Nun hab' ich Demian gelesen und finde darin die Bestätigung meiner Erfahrungen, vom Schicksal unter den Geschehnissen, vom Getriebenwerden. Deshalb schreib' ich ja auch wie ein Narr nun schon den 80. Band Tagebuch, denn alles was da nach und nach kommt, ist im Augenblick nichts - im Zusammenhang alles. Wie oft hab' ich den Grund meiner 'Verdüsterungen und Erleuchtungen' - die, wie Göthe sagt, des 'Menschen Schicksal' ausmachen, klar und deutlich nachher erfahren.[...]." [Tagebuch 80, o.D.; unveröff.] 

 

"[...]. Ich bin jetzt eben überreich, ich fühle das Steigen, das Sich-entfalten. Mit überstarker Sinnlichkeit leb' ich mein zweites, inneres Leben. Dass es sich verwebe mit dem äusseren, ist mein unendliches Streben. Ist meine Kunst, mein Dasein, meine Form. Ich selbst lebendig das sein, was ich meine – Traum mit Fleisch und Blut, nicht nur genannt sondern gelebt – wie schön.[...]."
Dieser ausgeprägte Wille zur Kunst, der das ästhetisch Überhöhte, Feierlich-Pathetische, den schönen Schein als Antriebskraft und Quelle des Lebens betrachtete, wird zum bestimmenden Thema der Tagebücher, die zum einen Grete Gulbranssons (gescheiterte) Fiktion eines Lebens als Gesamtkunstwerk  offenbaren, und zum anderen jene vielfältigen, komplexen Zusammenhänge und Verbindungen aufzeigen, wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts  in der Malerei,  der Literatur, der Musik und des Theaters (besonders in München, Berlin, Norwegen, Vorarlberg und Liechtenstein) bestanden. So werden anhand der persönlichen Geschichte der Verfasserin zeitgeschichtliche Informationen und kulturgeschichtlich relevante Fakten transparent gemacht und zu einem facettenreichen Abbild zusammengefügt, das für den Charakter einer gesamten Ära beispielhaft ist. Wie sich zeigt, liegen Wichtigkeit und Tragweite dieses außer gewöhnlichen Nachlassmaterial vor allem in der Durchdringung eines Einzelschicksals mit den großen Ereignissen und Personen der Jahrhundertwende: 

"In ihnen spricht sich", wie Walter Methlagl, der ehemalige Leiter des  Forschungsinstituts Brenner Archiv (Universität Innsbruck) im Vorwort zu Band II der Gulbransson-Edition formulierte, "nicht weniger als ein kollektives Gedächtnis aus, ein gemeinschaftliches kulturelles Erinnern", das angesichts "einer möglichst allseitigen Vermittlung" fast bis zur Auflösung eines kohärenten Ich reicht."

 

Und weiter:  "Dass dieses Ich – ursprünglich geformt im Abseits eines gebirgigen Provinzstädtchens, ausgesetzt den Zwängen einer patriarchalisch sich behauptenden Lebensform – seine ungebrochene Präsenz von Mal zu Mal in einer bis zur Exaltiertheit verdeutlichenden Gestik und in einer Rhetorik des Ergriffenseins von Allem und Jedem zu bewahren suchte, ist verständlich; für die genannte Vermittlung war es ein herzzerreißend hoher Preis."

 

Davon legen ihre Tagebücher Zeugnis ab, ein "Lebenswerk", wie Grete Gulbransson sie selbst bezeichnete, aber auch ein Dokument des Scheiterns.

 

Grete Gulbransson - Poetische Zirkel und Dichtergespräche

München, das neben Wien und Berlin zu den kulturellen Zentren der Jahrhundertwende gehörte, übte u.a. auch aufgrund des antiautoritären Regierungsstils Prinzregent Luitpolds von Bayern (1891 - 1912) eine starke Assimilationskraft besonders auf Künstler und Intellektuelle aus. Es wurden zahlreiche Verlage, Zeitungen oder Zeitschriften gegründet, wie dies beispielsweise  Albert Langen mit seiner 1896 ins Leben gerufenen satirischen Zeitschrift Simplicissimus oder Georg Müller mit der Jugend taten und zu medialen Experimentierfeldern für Künstler und Talente aller Richtungen machten.

 

Eine der bedeutendsten "Münchner Drehscheiben" für Intellektuelle, Literaten, Freigeister und Nonkonformisten war das alte Dorf Schwabing, wo auch Grete Gulbransson ihr Zuhause fand. Hier entfaltete sich – in Opposition zu den Lebensgewohnheiten des konservativen Bürgertums – die Münchner Künstlerwelt,wobei die anregende Athmosphäre von Schwabing nicht nur die Bildung intellektueller Zirkel  begünstigte (z.B. die Kosmiker um Karl Wolfskehl und Stefan George), sondern auch SchriftstellerInnen, LiteratInnen, Romanciers und Intellektuelle aus dem Ausland sowie aus ganz Deutschland anzog. Beliebte Treffpunkte waren Kaffeehäuser und Bars oder Salons und Wohnungen von Kunstliebhabern, Mäzenen und KünstlerInnen wie z.B. Franz von Stucks, Friedrich Wilhelm von Kaulbachs, Adolf von Hildebrandts, Anette Kolbs, Helene Böhlaus und ... der Gulbranssons. Dort vertiefte man sich u.a. in Diskussionen über Kunst und Literatur, was ausführlich in Grete Gulbranssons Tagebüchern dokumentiert ist. 

 

 "[...]. Wir sitzen zusammen auf dem Sopha vor dem Feuer und kaum sind die andern über die Treppe hinunter in's Rococozimmer, wendet sich der Hesse spontan mir zu und sagt, so wie er's jetzt nur sagen kann: "Jetzt sind wir ja allein!" "Jetzt Gretl, lesen Sie-" Ich such' mit fliegenden Fingern in den endlosen knisternden Blättern die Stelle, und find sie nicht und find sie nicht. Dann hab' ich sie und wie ein leises Geigenspiel hebt's an und schwillt und schwillt und sinkt dem in die Seele, der's herausgelockt hat. Er sitzt ganz still und schaut mich an. [...]. Kein Hemmnis, keine Grenze und fremd und leise, und doch, bis zum Polarstern reichend, hab' ich zitternd meine eigne Stimme gehört wie es aus mir gesprochen hat - gesungen."

Und der Hesse ist dagesessen, als ob er auf den Wind lauschen wollte, und sein Gesicht war voller Widerschein. [...]. Und wir haben Dinge geredet, die nur in so einer Stunde zu lösen und zu fassen sind erlöst vom Entzünden an einander. [...]. Hesse kann die Wurzeln mit mir fühlen, wie tief und dunkel sie auch hinuntergehen. Er weiß, wie mancher Klang aus solcher ahnungsvollen, dunklen Frühe kommt, getragen durch das Leben,- bis die Stunde da ist, wo das still gereifte große Obst zu Boden fällt - schwer voll Saft und aller Fülle übervoll. Wenn das Wort zur Form und zu heißem Leben wird und zum Propheten und zum Tor der Ewigkeit --" so les' ich's ihm ganz leise, von doppeltem Rhythmus durchklungen, getragen auf den Wogen meines Bluts, das laute Schläge tut. Und wie es fertig ist, geben wir uns die Hand. "Ja so ist es", sagt er "oh schön" - kann er mit solcher Demut sagen, so weich und so vom silbernen Untersee her, von dem lieben Land,- daheim". 

http://www.gulbransson.org/index.htm